Was Deutschlands neue Rolle im Welthandel bedeutet – verständlich, relevant, auf den Punkt.

Von ROMANUS OTTE

Mit LAURA HÜLSEMANN, JÜRGEN KLÖCKNER und TOM SCHMIDTGEN

— Reiches Kurswechsel bei Chip-Subventionen dämpft Hoffnungen der deutschen Halbleiter-Branche.

— Wechsel auf Schlüsselstellen. POLITICO kennt exklusiv die neue Postenverteilung in der Industrie- und Handelspolitik. 

— Verkehrsministerium ist offen für Änderungen bei Flottengrenzwerten und Verbrennerverbot. Dicke Luft nach VDA-Forderung.

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THEMA DES TAGES

CHIP-KLEMME: Die Halbleiterindustrie kann von Wirtschaftsministerin Reiche kaum neue Subventionen erwarten. Dabei würde die Branche gern mehr investieren – wenn nur bestehende Förderprogramme nicht überzeichnet wären, erfuhr Tom Schmidtgen exklusiv.

„Die beste Industriepolitik sind erst einmal gute Rahmenbedingungen, aber nicht das einzelne Fördern einzelner Unternehmen“, betonte Reiche bei einem Bühnengespräch beim Familienunternehmer-Tag am Freitag in Berlin, bei dem Tom dabei war. 

Kurswechsel: Unter Reiches Vorgänger Robert Habeck galt für Chipfabriken eher: Whatever it takes. Zwei Beispiele: Zehn Milliarden für Intel in Magdeburg (der Bau liegt auf Eis), fünf Milliarden für TSMC in Dresden (wird gebaut). 

Im November öffnete Habeck den aktuellen Fördertopf. Zwei Milliarden Euro sind im Klima- und Transformationsfonds (KTF) reserviert. Dafür bewerben sich aber 20 Firmen, die für ihre Projekte sechs Milliarden Euro Beihilfen wollen, berichtete Bloomberg.

Eine vorläufige Zusage hat Globalfoundries. Der US-Konzern will sein Dresdner Werk erweitern – mit mehreren Hundert Millionen Euro vom Bund. Man habe „mit der Realisierung seines European Chips Act Projekts in Dresden begonnen“, bestätigte ein Sprecher Tom. 

Weiterer Interessent ist FMC aus Dresden. Das Start-up will Speicherchips designen und auch bauen. Allein FMC verlangt für den Bau einer Fabrik 1,3 Milliarden Euro Subventionen, berichtet das Handelsblatt. Der Topf wäre ausgeschöpft. 

„Die zwei Milliarden Euro werden niemals ausreichen, um wichtige Ansiedlungen zu stemmen“, sagte Frank Bösenberg vom Netzwerk Silicon Saxony zu Tom. Er fordert, die für Intel vorgesehenen 9,9 Milliarden Euro Subventionen umzuverteilen. 

Druck auch vom Elektronikverband ZVEI: „Die angekündigten Maßnahmen aus dem Koalitionsvertrag müssen mit ausreichenden Fördermitteln und einer klaren politischen Priorität unterlegt werden“, fordert ZVEI-Bereichsleiter Clemens Otte gegenüber Tom.

Reiche bremst die Beihilfe-Euphorie: Danach würde man oft feststellen, „dass man sich mit der wirtschaftlichen Tragfähigkeit überschätzt hätte“, sagte sie in Berlin. 

Deutschland ist Spitzenreiter in Europas Halbleiterindustrie: Die Branche setzte 2024 rund 15,6 Milliarden Euro um, will dieses Jahr um 7,7 Prozent wachsen. Sie zählt 79.000 Beschäftigte, viele davon im Silicon Saxony zwischen Dresden, Freiberg und Chemnitz.

PERSONALIEN

GROSSES STÜHLERÜCKEN auf Schlüsselpositionen der Industrie- und Handelspolitik. Hier sind die neuesten Personalwechsel im Kanzleramt, Wirtschaftsministerium und Bundestag sowie noch offene Leerstellen.

IM WIRTSCHAFTSMINISTERIUM schließt Katherina Reiche ihren Komplettumbau weitgehend ab, wie mein Kollege Josh Groeneveld erfahren hat. 

Thomas Steffen wird Staatssekretär für Europa-, Wirtschafts- und Mittelstandspolitik. Er war bisher Staatssekretär im Gesundheitsministerium und folgt auf Bernhard Kluttig, der die Abteilung Wirtschaftsstabilisierung und Energiesicherheit übernimmt. Deren vorigen Leiter Philipp Steinberg hatte Reiche entlassen.

Ralph Böhme wird Leiter der Abteilung Außenwirtschaft. Böhme leitete bisher im Kanzleramt das Referat Außenwirtschaft. Er folgt auf Christian Forwick, über dessen Ablösung Josh am Freitag exklusiv berichtet hatte. 

Forwick war erst im Oktober 2024 von Habeck zum Abteilungsleiter ernannt worden – nach 30 Jahren im Ministerium. Forwick kehrt nun auf seinen vorigen Posten als Leiter der Unterabteilung VA (Amerika und Handelspolitik) zurück.

Reiche installiert auch wieder eine Leitungsabteilung. Chefin soll Yvonne Schreiber werden. Sie hatte bereits das Ministerbüro von Reiches Vor-Vorgänger Peter Altmaier geleitet. 

IM KANZLERAMT hinterlässt Böhmes Wechsel eine Lücke in der Abteilung 4 (Wirtschaft und Finanzen). Im Team von Levin Holle sind ohnehin viele Positionen vakant, zeigt das Personaltableau des Kanzleramtes, das meinem Kollegen Hans von der Burchard vorliegt. 

Alle drei Unter-Abteilungsleiter (Gruppenleiter) sind unbesetzt oder nur stellvertretend besetzt. Auf der Ebene darunter fehlt der wichtige Referatsleiter für Energiepolitik.

Gipfel-Sherpas: Wie unter Kanzler Scholz bleibt Ulrich Oberndorfer für die Koordinierung der G7- und G20-Gipfel verantwortlich. Merz’ Sherpa, also persönlicher Gipfel-Vorbereiter ist Holle. Das geht aus dieser Anordnung zur Organisation des Kanzleramtes hevor, die Hans vorliegt. Kommende Woche reist Merz zu seinem ersten Weltwirtschaftsgipfel nach Kanada. 

IM BUNDESTAG hat der einflussreiche Parlamentskreis Mittelstand der CDU/CSU-Fraktion seinen neuen Vorstand bestimmt. Laura Hülsemann hat die Namen exklusiv für POLITICO.

Christian Freiherr von Stetten ist alter und neuer Vorsitzender des PKM. Von Stetten sitzt auch dem Wirtschaftsausschuss des Bundestags vor. 

Florian Oßner ist erster Stellvertreter. Kerstin Radomski, Carline Bosbach und Tilman Kubman haben ebenfalls Stellvertreterposten.

Gitta Connemann, die Chefin der Mittelstands- und Wirtschaftsunion MIT ist kooptiert im PKM-Vorstand. Sie ist auch Parlamentarische Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium und Mittelstandsbeauftragte der Regierung. 

Stefan Rouenhoff, ihr Staatssekretärs-Kollege im Reiche-Ministerium, ist ebenso im Vorstand wie Bundestagspräsidentin Julia Klöckner und Agrarminister Alois Rainer.

Weiter Staatssekretäre im PKM-Vorstand: Philipp Amthor und Thomas Jarzombek (Digital), Christian Hirte (Verteidigung), Mareike Wulf (Familie), Georg Kippels (Gesundheit), Silke Launert (Forschung).

Die Fraktion vertreten der Vorsitzende Jens Spahn und seine Stellvertreter Mathias Middelberg, Albert Stegemann und Patricia Lips. Auch CDU/CSU Generalsekretär Carsten Linnemann mischt mit. 

Hinzu kommen die AG-Vorsitzenden Jan-Marco Luczak (Wohnen), Stephan Meyer (Sport und Ehrenamt), Andreas Lenz (Wirtschaft), Fritz Güntzler (Finanzen) und Björn Simon (Verkehr) sowie Thomas Bareiß, der mit Äußerungen zu Nord-Stream und Russland angeeckt war.

ZÖLLE

REICHES ZÜNDSTOFF: Um schneller Handels- und Investitionsabkommen schließen zu können, müsse Deutschland bei seinen Ansprüchen an Sozial- und Umweltstandards flexibler sein, hörte Tom von Reiche beim erwähnten Familienunternehmer-Tag. 

„Wir brauchen in Europa mehr Spielraum für Investitionen, wir brauchen internationale Handelsabkommen und die müssen flexibel sein“, sagte die Wirtschaftsministerin.

Konflikt im Kabinett: „Wenn wir dann aus den anderen Häusern jeden Kleinst-Standard aufrufen, der da irgendwie noch reinverhandelt werden muss, dann kommen wir mit dem Gegenüber nicht in ein Investitions- oder Handelsabkommen“, kritisierte Reiche.

Gegen Bas und Schneider: „Wir müssen lernen, dass Standards wichtig sind, aber zum Erreichen eines Abkommens nicht jeder Standard aus dem BMAS oder dem Umweltministerium eins zu eins übernommen werden kann.“ Damit sprach Reiche Arbeitsministerin Bärbel Bas und Umweltminister Carsten Schneider (beide SPD) an. 

Arbeit, Umwelt, Technik: Neben sozialen und umweltrelevanten spielen aktuell technische Standards eine Rolle in Zoll-Verhandlungen mit den USA. Reiche hatte mit der Autoindustrie zuletzt über eine Lockerung der strengen EU-Standard für das autonome Fahren gesprochen. 

Die Bundesregierung will bis zum Sommer Wirtschaftsabkommen mit Chile, Singapur und Vietnam ratifizieren. Sie forciert zudem die EU-Abkommen mit Mercosur und Mexiko sowie  Verhandlungen mit Indien, Australien, den ASEAN-Staaten und mehreren Ländern Afrikas.

VERBRENNERVERBOT

DICKE LUFT: Die Forderung der Automobilindustrie, die CO2-Flottengrenzwerte und das Verbrennerverbot ab 2035 aufzuweichen, hat heftige Diskussionen ausgelöst – auch in der Koalition.

Offenheit: Das von Patrick Schnieder (CDU) geführte Verkehrsministerium verwies auf die laufende Überprüfung der 2035er-Ziele durch die EU-Kommission. Die Regierung werde sich danach positionieren, sagt ein Sprecher zu Jürgen Klöckner. 

Das Umweltministerium von Carsten Schneider (SPD) äußerte sich zunächst nicht zum VDA-Vorstoß, über den POLITICO vorab berichtet hatte. 

Die SPD sei „überrascht“, sagt Verkehrssprecherin Isabel Cademartori unserem Kollegen Jasper Bennink. „Wir werden, wie im Koalitionsvertrag festgeschrieben, an den Flottengrenzwerten festhalten, und gehen davon aus, dass die EU-Kommission das auch tut.“  

Einen „skandalösen Frontalangriff der Automobilindustrie auf den Klimaschutz“, sehen der Grüne EU-Abgeordnete Michael Bloss und die Grünen im Bundestag. 

Das Verkehrsministerium hob hervor, dass die EU-Kommission bei ihrer Überprüfung einen„ technologieneutralen Ansatz“ verfolge, „in dem E-Fuels eine Rolle spielen“.

Auch die Regierung bekenne sich zur Technologieoffenheit und setze sich „für eine Förderung von Plug-In-Hybrid-Technologie (PHEVs) und Elektrofahrzeugen mit Range-Extender (EREV) und entsprechender Regulierung auf europäischer Ebene ein“.

ROHSTOFFE

SELTENES ANGEBOT: Während Vertreter von China und den USA am Montag in London weiter über Zölle verhandeln, hat China der EU im Streit um Seltene Erden ein Angebot gemacht. Die Volksrepublik ist bereit, einen „grünen Kanal“ für europäische Unternehmen einzurichten, über den diese schneller die Lizenzen zum Export Seltener Erden erhalten könnten, teilte das chinesische Handelsministerium am Samstag mit. 

Im April hatte China strenge Exportkontrollen für Seltene Erden eingeführt. Peking hoffe, dass die EU im Gegenzug „Maßnahmen ergreift, um den konformen Handel mit Hochtechnologieprodukten nach China zu erleichtern, zu schützen und zu fördern“.

Chinesische BEVs: In derselben Erklärung erklärte das chinesische Handelsministerium, dass die Verhandlungen über einen Mindestimportpreis für Hersteller von Elektrofahrzeugen „in die Endphase eingetreten sind, aber es sind noch Anstrengungen von beiden Seiten erforderlich“.

WEITERE NEWS

INDUSTRIE VERLIERT 100.000 JOBS in nur einem Jahr.  Allein die Autoindustrie baute 45.000 Stellen ab, ermittelte die Beratungsgesellschaft EY. Ende des ersten Quartals beschäftigte die deutsche Industrie noch 5,46 Millionen Menschen. Vor Corona waren es noch 217.000 oder 3,8 Prozent mehr. In diesem Jahr rechnet EY mit einem weiteren Minus von 70.000 Arbeitsplätzen. 

CHINAS HANDEL MIT DEN USA ist im Mai eingebrochen. Die Exporte blieben 34,5 Prozent unter dem Vorjahr. Importe aus den USA gingen um 18,1 Prozent zurück, teilte der Zoll in Peking mit. Insgesamt wuchsen Chinas Exporte aber um 4,8 Prozent. Die Importe sanken um 3,4 Prozent. Und China – Deutschland? Die deutschen Exporte nahmen um 1,3 Prozent ab, aber. Deutschland importierte 21,5 Prozent mehr als vor Jahresfrist aus China. 

FRANKREICH FORDERT, dass die EU-Lieferkettenrichtlinie erst für Unternehmen mit mindestens 5000 Mitarbeitern und einem Mindestjahresumsatz auf 1,5 Milliarden Euro gilt. Das berichtet das Handelsblatt mit Verweis auf ein internes Positionspapier. Der Schritt würde die meisten Firmen von den Berichtspflichten befreien.

HEUTE WICHTIG

– BRÜSSEL I: Die EU-Kommission erwartet bis heute Mittag Reaktionen von Unternehmen zu ihrer 100-Milliarden-Euro-Liste mit möglichen Zöllen gegen die USA. Die Beratungen mit den Hauptstädten gehen danach voraussichtlich informell weiter. Aus deutscher Sicht versuchen unter anderem die Autokonzerne BMW, Mercedes und VW von der Liste zu kommen. Die EU setzt im Zollstreit auf eine Verhandlungslösung, bereitet aber Gegenzölle vor, sollte bis zum Ende der Frist am 9. Juli keine Einigung gelingen. 

– BRÜSSEL II: Um 9 Uhr startet der European Defence & Security Summit 2025, bei dem die Rüstungsindustrie mit der Politik (unter anderem den EU-Kommissaren Andrius Kubilius und Marta Kos) in Kontakt tritt.

Das war Industrie und Handel — das Wirtschaftsbriefing von POLITICO. Vielen Dank, dass Sie uns lesen und abonnieren. Bis zur nächsten Ausgabe!

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